Frieden
Alle sagen immer, dass ich eine starke, mutige Frau bin. Das ist die Beschreibung von mir, die ich schon mein ganzes Leben höre.
Damals war es mir nicht bewusst.
Also ich wusste es, aber mir war es nicht bewusst. Es war mir nicht klar.
Ich konnte nur verlieren.
Ich, das junge Schwarze Mädchen, in einem kleinen Dorf im Hunsrück, konnte nur verlieren.
Ich, die junge Mutter, in einer toxischen Beziehung, konnte nur verlieren.
Ich, die selbstständige Frau ohne abgeschlossene Ausbildung, konnte nur verlieren.
Ich, die ausgebrannte Perfektionistin in einem endlosen Scheidungskrieg, konnte nur verlieren.
Ich, die immer wütende Schwarze Frau, mit einer noch viel wütenderen Mutter, KONNTE NUR VERLIEREN.
Aber wer will denn schon in seiner Geschichte das Opfer sein. Du? Nein. Ich auch nicht.
Aber jetzt hab ich ja Zeit. Zeit mir zu überlegen, wie ich das ändern kann. Nie wieder Opfer sein in meiner eigenen Geschichte.
Aber wo war ich stehen geblieben? Ja, genau. Bei mir. Der wütenden Schwarzen Frau. Diesen Stempel trage ich mit gebrochenem Stolz. Er hilft mir, Aufmerksamkeit und Empathie zu erzeugen. Denn das habe ich mir zur Aufgabe gemacht. Und es scheint ja auch irgendwie zu funktionieren. Immerhin hast du diesen Beitrag schon bis hierhin gelesen. Und wenn ich ehrlich bin - und ehrlich das bin ich -, so macht das hier für mich auch mehr Sinn, als jeden Tag auf dumme Kommentare zu antworten und immer wieder zu versuchen, die Menschheit davon zu überzeugen, dass ich hier sein darf. Hier sein kann. Hier bin.
Und wenn ich noch ehrlicher bin, so weiß ich auch, dass ich jeden Grund habe, wütend zu sein. Ich bin eine Frau in einem patriarchalem System. Ich bin Schwarz in einer weißen Mehrheits- dominierten Gesellschaft, in der ich als Frau auch nicht dem eurozentristischem Schönheitsideal entspreche. Und ich bin Mutter und selbstständig, ergo keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keine Rentenversicherung und kein Arbeitslosengeld.
Also kämpfe ich. Jeden Tag aufs Neue. Kämpfe um Anerkennung, dass ich meinen Job genauso gut machen kann, wie jeder Mann in der Gastronomie-Industrie. Kämpfe darum, dass ich aufgrund des toten Winkels einen Kratzer in das Auto des alten Mannes mit starkem hessischen Akzent auf dem Lidl Parkplatz gefahren habe und es nichts damit zu tun hat, dass ich angeblich im „Dschungel Auto fahren gelernt habe“.
Kämpfe darum, dass ich 12 Jahre meines Lebens als Hauptbetreuungsperson unserer beiden Kinder ein Anrecht auf einen Teil des über die Jahre erwirtschafteten Vermögens meines Noch-Mannes habe. Kämpfe darum, aufgrund meiner immer häufiger werdenden Zusammenbrüche nicht als schwach angesehen zu werden. Kämpfe darum, dass meine Schwäche mich nicht definiert, kämpfe darum, dass ich eine junge, aber trotzdem ausreichend gute Mutter bin. Kämpfe darum, dass ich nicht verrückt bin, wenn ich in der Bahn ausraste, weil die vierte Person an diesem Tag gegen seinen Willen die Haare meines Sohnes anfassen will. Kämpfe vor der Angst des Versagens. Kämpfe darum, einfach nur gesehen zu werden. Kämpfe, kämpfe, kämpfe – um den Platz, den ich einnehme. Kämpfe ums Seindürfen. Und dann kämpfe ich irgendwann ums Seinwollen.
Kämpfe darum, weiterzumachen. Langsam weiß ich gar nicht mehr warum. Es geht nur noch ums Weitermachen. Immer weiter. Nur nicht aufgeben. Nicht aufhören. Weiter. Nicht aufgeben. Nicht aufgeben. Nicht aufgeben. Nicht aufgeben. Aufgeben.
Und dann kommt der Mittwoch.
Der Mittwoch startet mit dem Gedanken des Aufgebens. Aufhören. Ein letztes Mal die Kontrolle übernehmen. In Frieden sein. Nicht wütend. Keine Angst. Nur Frieden. Loslassen. Einfach aufgeben.
Ich halte mich an diesem Wort fest. Erlaube mir, hinabzusinken. In die Dunkelheit. Fühle, wie die Dunkelheit meinen Schmerz lindert. Die Wut löscht. Auch von der Angst und Anspannung ist nicht mehr zu spüren. Ich sinke hinab. Erst langsam, dann immer schneller. Die Dunkelheit umhüllt mich. Packt mich in einen warmen sicheren Kokon.
„Du kannst hier bleiben“, flüstern die Gedanken. „ Du musst nicht mehr kämpfen. Lass los!“
Loslassen.
Ich halte mich an diesen Worten fest und lasse los. Greife nach meiner einzigen Möglichkeit der Flucht. Der Ausgang. Da ist er. Ich sehe ihn.
Ich öffne meine Augen. Schmerz, Verwirrung, Scham, Angst, Wut. Alles wieder da. Egal, wie sehr ich mich nach Frieden sehne…. Ich habe überlebt.
Kann man noch von überleben reden, wenn ich eigentlich aufgegeben habe?
Kann ich noch von mir sagen, dass ich eine starke Frau bin, wenn ich aufgegeben habe?
Bin ich eine gute Mutter, wenn ich aufgegeben habe?
Und wie ist es eigentlich, habe ich noch das Recht, wütend zu sein, wenn ich aufgegeben habe?
Bin ich ein Opfer, wenn ich aufgegeben habe?
Oder bin ich eine Täterin, weil ich aufgegeben habe?
Ist es meine Schuld, dass ich aufgegeben habe und wenn ja,
kann ich mich dafür entschuldigen, dass ich aufgegeben habe?
Wenn ich mich entschuldige und um Verzeihung bitte, wird mir dann verziehen, obwohl ich aufgeben habe?
Darf ich nochmal von vorne anfangen und versuchen, es nochmal besser zu machen, wenn ich aufgegeben habe?
Oder muss ich da weiter machen, wo ich aufgehört, habe wenn ich die Chance bekomme, weiter zu machen?
Ich habe ja schließlich aufgegeben!
Muss ich zurück an den Start und darf nicht über Los gehen und keine 200€ einziehen, weil ich aufgegeben habe?
Oder darf ich auf dem Feld stehen bleiben? Darf ich stehen bleiben und mich ausruhen? Vielleicht auf Frei-Parken?
Muss ich eine Runde oder vielleicht zwei Runden aussetzen, weil ich aufgegeben habe? Und danach?
Wie ist es denn danach?
Also jetzt?
Was ist jetzt?
Was nun?
Darf ich je wieder aufgeben? Oder bekomme ich nur eine Chance aufzugeben und diese habe ich jetzt aufgebraucht?
Was ist, wenn ich immer noch aufgeben will?
Muss ich denn jetzt, wo ich aufgegeben habe, unbedingt weitermachen, nur weil ich es nicht geschafft habe, komplett aufzugeben?
Darf ich wütend auf die Menschen sein, die sich weigern loszulassen?
Die Menschen, die mich aus Liebe nicht aufgeben lassen oder muss ich ihnen dankbar sein?
Ich bin dankbar, weil sie mich fühlen lassen.
Sie lassen mich ihre Liebe fühlen und das, nachdem ich so lange nichts mehr gefühlt habe und auch nicht wusste, ob ich überhaupt noch fühlen kann.
Ist es dann fair, dass ich immer noch nicht bereit bin, weiter zu machen, dass ich immer noch aufgeben will? Darf ich sie alle ein weiteres Mal enttäuschen? Weil ich zu schwach bin, weil ich doch einfach nicht mehr kann? Nein, nicht mehr will?
Ich will nicht mehr. Bin ich jemandem etwas schuldig? Muss ich? Sollte ich? Wäre es besser, wenn ich würde?
Obwohl ich doch nicht mehr will? Also ich will. Aber eben aufgeben. Ich will loslassen und gehen und verschwinden und nicht mehr sein. Leichtigkeit spüren.
Bin ich denn nicht eine noch größere Versagerin, wenn ich aufgebe aufzugeben, also auch jetzt nicht diese ein Sache zu Ende bringen kann? Auch das nicht schaffe, dieses Loslassen? Einfach nichts mehr tun?
Also nochmal zu meiner Frage am Anfang.
Alle sagen ich bin stark und mutig. Und eine Kämpferin. Aber wenn ich aufgebe, wer bin ich dann?
Diesen Text habe ich vor 4 Wochen verfasst. Eine Woche nach meinem gescheitertem Selbstmordversuch.
Nun bin ich seit 5 Wochen in stationärer Behandlung in der Hohe Mark Klinik und habe immer noch keine Antworten auf die vielen Fragen, die mir damals im Kopf umher geschwirrt sind. Ich habe länger überlegt, ob ich diesen Text veröffentlichen möchte. Und habe diese Frage mit einem klaren Ja beantwortet. Denn auch wenn ich auf diese vielen Fragen keine Antworten habe, habe ich gemerkt, dass ich das nicht muss. Ich muss nicht wissen, was jetzt passiert und was jetzt sein muss. Ich habe sogar eine Ahnung davon, dass vielleicht gar nichts passieren muss und dass gar nichts wirklich sein muss. Ich kann einfach, je nach Laune, die Tage, Stunde für Stunde oder auch Tag für Tag (er)leben. Ich habe beschlossen, mir Zeit zu geben. Viel Zeit. Denn die brauche ich und die werde ich auch noch lange nach meiner Entlassung brauchen. Und es ist vielleicht auch einfach OK, diese Fragen für sich stehen zu lassen. Und vielleicht brauche ich auch keine Antworten darauf. Vielleicht helfen diese Fragen und dieser Text der Person, die ihn ließt und ähnliche Gedanken, Fragen und Ängste hat.
So oder so, bleibt die Sehnsucht nach der Ruhe und dem Frieden und dem Loslassen. Der Unterschied zu dem Zeitpunkt, an dem ich diesen Text verfasst habe, ist nur, dass ich nun versuchen möchte, all das im Leben und nicht mehr im Tod zu finden.