Dein Wald
Ich vertraue dir. Oder: Ich will dir vertrauen. Habe ich es verlernt, auf dem Weg, den du eingeschlagen hast, in diesen Wald? Auf dem Weg, den du ohne mich entdeckt hast, ihn lang gelaufen bist, durch deine Schritte im Geäst platt getrampelt hast und dich so tief in diesen Wald begeben hast, in den ich mich aus Schutz vor der Angst nie hinein getraut hätte? Ich weiß es nicht. Aber ich bin dir irgendwann hinterhergelaufen, als ich wusste, was du suchst; die Angst, dich zu verlieren, war größer als die Angst vor dem Wald und dem, was du finden wolltest. Manchmal hab ich dir zugerufen: Geh nicht rein, bleib bei mir, komm zurück, wo willst du hin?- Aber ich glaube, da hast du mich schon nicht mehr gehört!
Und nun laufen wir hier, in diesem Wald. Manchmal selbstsicher, manchmal zweifelnd, immer mit Angst in deinen Augen, bewegst du dich zwischen den Bäumen hindurch, die auch für dich groß und erschreckend sind, die du aber bezwingen kannst, wenn du die Augen schließt. Und ich tapse vorsichtig durch das Dickicht, hinter mir dein Schatten, der so groß ist, dass ich dich manchmal nicht mehr sehen kann. Und der mir solche Furcht bereitet, dass ich ohne nachzudenken schneller werde. Aber ich will, nein, ich kann dich nicht überholen, denn ich weiß nicht, wohin du gehst.
Also drehe ich mich ab und an nach diesem Schatten um, beobachte ihn mit Argusaugen: Er tut mir nichts, er ist einfach nur da. Aber er ist mir unheimlich, weil er nicht bei dir, sondern überall zu sein scheint. Das ist kein gewöhnlicher Schatten und wenn ich genau hinsehe, sehe ich, dass er nicht aussieht wie du. Und doch wissen wir beide, dass er dir gehört. Er gehört dir, so wie dieser Wald dir gehört.
Dieser Wald ist dein Wald. Ich bin dir gefolgt. Ich laufe dir hinterher. Nein, ich verstehe nicht die Wege, die du einschlägst, aber ich folge dir. Es ist nicht wirklich dunkel, im Gegenteil, manchmal scheint sogar die Sonne zwischen den Ästen hindurch. Ich folge dir mit den Gedanken, dass es hier eigentlich schön ist. Und doch finden wir beide es hier nicht schön.
Eigentlich wollen wir beide hier raus, oder nicht? Du doch auch, oder? Rede mit mir! Sag mir, wohin du gehst und ob der Wald ein Ende hat, oder ob wir uns hier, in deinem Wald, nur im Kreis bewegen, der dich satt, und mich müde macht? Und wieso ist dein Schatten so groß, dass es kalt wird, wenn ich an ihn denke und das, was du zu suchen gewillt bist?
Ich habe es verloren, was mich dich immer begleiten lies: Das Verständnis für die Wege, die deine Füße in diesen festen Schuhen gehen. Ich sehe Angst in deinem Blick, wenn du dich zu mir umdrehst, und doch marschierst du schnell voran. Was siehst du hinter mir? Siehst du den Schatten auch so groß wie ich? Siehst du im Blick in seine Augen dein Ziel vor dir?
Bleib stehen! Sag mir, wohin du willst! Suchst du einen Ausweg oder suchst du dieses Ziel; diese Höhle, von der du mir erzählt hast, in der du für immer bleiben kannst und in die du mir keinen Einlass gewährst, weil es eben deine ist?
Du läufst. Deine Füße tragen dich durch den Wald, und dein Blick, wenn du dich zu mir umdrehst und doch nur deinen Schatten siehst, will weg von hier.
Ich sehe es doch. Bleib stehen! Sag mir, wohin du willst! Bleib stehen, verdammt nochmal, bleib bitte stehen! Sag mir, was du siehst, wenn du die Augen schließt!
Ich habe Angst. Ich habe Angst vor dem Wald, in den du mich geführt hast, ohne mich zu führen; in den ich dir gefolgt bin, weil ich dich liebe. Ich habe Angst um dich, die von deinen Füßen getragen wird, während deine Augen nicht wissen, wohin mit sich. Dein Blick ist fest, wenn du geradeaus läufst; ich sehe ihn in deinem Schatten, der noch immer hinter mir ist und zu dem ich mich wie manisch umdrehe. Dein Schatten starrt uns beide an. Er macht mir Angst und dir, das spüre ich, weil du scheinbar grundlos schneller wirst, noch viel mehr.
Wir wissen beide, der Wald ist nur ein Wald; es gibt dahinter ein freies Feld oder eine Wohnsiedlung, wo wir hinkönnten. Wir könnten rufen und man würde uns hören; doch wir rufen nicht. Ich aus Angst, dich zu erschrecken und du aus Angst, du könntest entkommen, doch dein Schatten bliebe hier und du wärst plötzlich nur noch ein kleiner Teil deiner selbst. Nur noch ein Körper, der keinen Schatten mehr wirft. Siehst du, ich verstehe dich, ich verstehe dich wirklich. Ich bin deine Freundin. Ich habe dich immer verstanden.
Doch in dieser Situation laufe ich nur, tapsig und unsicher, mein Blick geheftet auf deine Fersen, aus Angst, deine Augen zu sehen, die mir mitteilen, dass ich dir nicht helfen kann. Es ist dein Wald und du musst im Moment hier sein. Ich verstehe. Ich versuche, zu verstehen, aber meine Schritte sagen mir, dass ich nicht weiß, was ich hier tue.
Wir laufen, mal unsicher, mal forschen Schrittes, über das Holz und das Moos, das sich plötzlich anfühlt wie aus Glas. Wären wir barfuß, es würde weh tun.
Aber siehst du, wir haben Schuhe an, noch geht es. Ich bitte dich, zieh nicht deine Schuhe aus, lass sie an – lass sie verdammt nochmal an! Wenn du deine Schuhe jetzt ausziehst, weiß ich wirklich nicht mehr, wie ich dich wieder einholen kann. Ich weiß, du würdest rennen, deine Füße würden nur noch einen sanften Abdruck auf dem Waldboden hinterlassen. Ich würde deine Spuren bald nicht mehr sehen, und wäre allein in deinem Wald, der für dich irgendwo eine Höhle bereit hält, doch für mich nur die Angst vor ihm. Bitte behalte deine Schuhe an! Blut versickert im Waldboden. Es wird eins mit der Erde, die uns geboren hat.
Ich will dir folgen können. Und wenn du stehen bleibst, kann ich dich auch endlich einmal halten und in den Arm nehmen. Bitte bleib stehen und sag mir, wohin du willst! Was ist dein Ziel? Erzähle mir, was dich in diesen Wald geführt hat und was du suchst!
Ich vermisse dich, während wir hier langlaufen und du direkt vor mir bist. Ich sehe dich und doch vermisse ich dich. Wir laufen. Du voran, ich hinterher und hinter mir: Dein riesiger Schatten, der alles dunkel macht, selbst das Licht, das durch die Baumwipfel scheint. Wir sind eine kleine verlorene Wandertruppe, du, ich und dein Schatten; deine Augen in diesem sind die Wanderroute, sie kennen den Weg. Lass mich nicht allein, in deinem Wald! Bleib bei mir, halt mich fest! Erklär mir, wie ich dir helfen kann, wenn doch der Weg, den du gehst, mir Angst macht! Erklär es mir, verdammt nochmal, erklär es mir!
Du rennst plötzlich los, nimmst die Füße in die Hand. Dein Körper sieht merkwürdig aus, so entstellt, mit den Füßen in deiner Hand. Ich verstehe nicht, wie es dir möglich ist, so zu rennen, doch du tust es einfach. Es funktioniert für dich. Du atmest laut und wirst plötzlich ganz ruhig.
Da vorne ist deine Höhle. Ich sehe sie, sie ist ruhig und groß. Wir würden beide dort hineinpassen. Wir könnten uns ausruhen und schlafen; doch ich weiß, dass du mich nie mitnehmen würdest, in diese Höhle. Du würdest einfach ohne mich die Augen schließen und dich hineinbegeben. Und ich, ich würde vor dieser Höhle stehen und warten, warten auf den Tag, an dem du wieder hinauskommst. Ausgeschlafen und ausgeruht, die Arme reckend nach der Sonne, würdest du da stehen und mich suchen. Doch ich, ich hätte in dieser Zeit nicht einmal die Augen geschlossen, aus Angst, dich zu verpassen, wenn du wieder den Waldboden betrittst. Ich wäre wachend gestorben, vor deiner Höhle, die Platz für uns beide gehabt hätte, aber in die du mich nicht hättest mitnehmen wollen, weil du wüsstest, dass du nie wieder aus ihr herauskommen würdest. Ich wäre lebend gestorben.
Darum bitte ich dich: Geh nicht in die Höhle!
Lass uns noch ein bisschen durch diesen Wald laufen, mit festem Schuhwerk, sodass wir irgendwann unsere Spuren neu sehen können, entdecken, dass sie uns gehören und beginnen, sie zurückzuverfolgen, um diesen Wald gemeinsam zu verlassen! Ja, wir laufen verloren nun durch deinen Wald. Er gehört dir, ich folge dir, ich bin bei dir.
Keine Sorge, ich bin immer noch hinter dir, ich pass auf dich auf! Dein Schatten ist immer noch da, ich sehe ihn. Er spendet mir Schatten, wenn die Sonne zu hell auf meine Haut scheint. Er verdunkelt den Weg, auf dem wir laufen sind, ja – aber, schau, wenn du dich jetzt ein bisschen bewegst, wenn du dich nur einmal zu mir umdrehst, dann sehen wir wieder die Spuren, die wir getrampelt haben, als wir uns hier hinein begeben haben. Ich erkenne sie! Das sind deine Füße, und das sind meine Füße, kurz hinter dir.
All unsere Schritte, sie zeigen in Richtung Höhle. Die sich nach vorne hin verjüngenden Fußspuren haben eine Richtung. Genau. Aber wenn wir uns nur einmal um neunzig Grad um unsere eigene Achse drehen und unsere Idee von der richtigen Richtung dieser Fußspuren ändern, können wir aus deinem Wald hinausfinden! Das ist schwierig, ich weiß. Denn wir, vor allem du, sind es gewohnt, schnell zu denken. Da fällt diese kleine Drehung um die eigene Achse schwer, vor allem, wenn wir doch ein Ziel vor Augen haben, das viel einfacher zu erreichen ist. Wir wissen es beide: Du musst den ersten Schritt in die andere Richtung machen, sonst verlieren wir uns aus den Augen. Du musst diese neunzig Grad wenden!
Du tust es. Langsam, vorsichtig, ängstlich. Ein kurzer Blick, ich sehe kurz meine Liebe in deiner Pupille und entdecke auch deinen Blick auf mich in deinen Augen. Ich spüre sie, diese Liebe, die so viele Richtungen hat, dass einem schwindelig werden kann. Du nickst mir zu, immer noch ängstlich. Ich schaue dich an, ebenfalls immer noch ängstlich. Du nickst nochmal. Ich drehe mich um, drehe mich von dir weg, blicke nun nach vorne in deinen großen, riesigen Wald. Wo bist du? Wo bist du? Bist du noch hinter mir?
Ich tue so, als würde ich nach oben auf die Baumwipfel starren, aber ja, ich gebe zu, eigentlich suche ich dich. Du bist da, hinter mir und hinter dir dein Schatten.
Wenn uns jemand sehen würde, würde er denken, wir tanzen. Doch wir tanzen nicht, wir ändern die Richtung, in die wir gehen. Es ist schwer, es ist ein Kraftakt, es fühlt sich nicht an wie tanzen, es fühlt sich an wie die Wendung eines LKWs auf der Autobahn nach einer Geisterfahrt. Doch jetzt haben wir es geschafft, nur bewegen können wir uns jetzt erst Mal nicht mehr. Wir sind steif, wie eingefroren mit kalten Füßen auf dem Waldboden aus Glas.
Lass uns ausruhen, vor deiner Höhle. Lass uns dort sitzen und schlafen, ja, Stunden, Tage, Monate, wenn du musst, auch Jahre. Ich bin zwar müde, aber ich habe die Augen geöffnet. Schlaf ruhig kurz ein, es ist immer jemand wach! Und dieser jemand bin ich, auch, wenn es anstrengend ist. Nach ein paar Sekunden öffnest du die Augen. Du siehst mich an, du weinst. Ich will dich umarmen, doch du wehrst mich ab. Deine Augen sind geöffnet, doch dein Schatten liegt über ihnen. Ich hatte ihn fast vergessen, während du schliefst. Ich suche mich in deinen Augen, doch dein Schatten versperrt mir den Weg zu ihnen; meine Liebe kann gerade einfach keinen Spiegel darin finden, so sehr ich es auch versuche.
Ich würde deinem Schatten gerne den Boden unter den Füßen wegziehen, doch leider stehen wir beide auch darauf. Und ich will nicht fallen, ob mit dir oder ohne dich! Ich will einfach nicht fallen und ich bin nicht bereit, einfach zur Seite zu springen und dich und deinen Schatten dort vor deiner Höhle in deinem Wald dem bodenlosen Erdboden zu übergeben. Dein Schatten macht mir zwar Angst, aber noch mehr Angst habe ich davor, bodenlos im Wald zu leben, krakselnd wir ein Tier, dessen Füße amputiert wurden, immer nach dem letzten Rest Wurzel, Holz oder Staub zu suchend, das ich mit meiner Angst noch nicht weggezogen habe. Ich habe es dir wohl nie gesagt, nie deutlich genug gemacht: Aber der Boden, auf dem du läufst, ist mein Dach über dem Kopf.
Konzentration, sage ich mir, während du dich aufrappelst und einen Blick in deine Höhle wirfst. Darin ist es ruhig, sagst du mir – aber auch sehr sehr hell. Und das tut den Augen weh. Deine Pupillen sind stark geweitet, als du den Blick zu mir wendest und mich fragend anschaust. Warum lässt du mich nicht hineingehen, sagen diese Augen, die ängstlich geweitet auf mich starren. Ich halte deinen Blick nicht aus, ich muss ihn abwenden – ich muss etwas tun. Ich muss irgendetwas tun. Soll ich schreien, soll ich weinen, soll ich brüllen? Ich weiß es nicht, keines meiner Bedürfnisse scheint echt zu sein in deinem Wald. Ich will nur, dass du bei mir bleibst, das ist alles, was ich weiß.
Ich schaue mich um, während du leise fragst, warum, warum, warum.
Ich schaue mich um und sehe: Der Weg, den du getrampelt hast und auf dem ich dir gefolgt bin, schlängelt sich durch deinen Wald. Er ist überall und damit nirgendwo. Ich stehe plötzlich vor dir, halte dir meine Hand hin; und du packst sie einfach, ja, so ist es gut, du lässt mir dir aufhelfen. Du bist zu müde, um zu fragen, warum.
Du blickst dich um. Er ist immer noch da, ja, dein Schatten, ich sehe ihn auch. Wir schauen nach unten, in die Fußspuren, in denen wir stehen. Ich falsch herum in meiner, du falsch herum in deiner und hinter dir lächelt dein Schatten. Er führt uns einen Schritt nach dem anderen, falsch herum, obwohl es richtig zu sein scheint. Ich bin sicher, es ist richtig! Deinen Augen sehe ich an, dass du manchmal, vielleicht sogar meistens, noch zweifelst – aber du folgst mir. Unsicher und mit tapsigen Schritten versuchst du, richtig herum in deine Spuren zu treten, die in die andere Richtung führen.
Manchmal überlaufen sich die Pfade, die wir selbstsicher, zweifelnd, ängstlich getrampelt haben, zu kleinen Lichtungen, auf die die Sonne scheint. Hier können wir kurz Pause machen, Luft holen, atmen. Wir laufen weiter, es fühlt sich manchmal an wie ein Rückweg. Ich drehe mich um, sehe deine Augen. Du schaust mich an. Du lächelst. Ja, ich bin immer noch bei dir, weil wir beide nicht gestorben sind: du mit geschlossenen Augen und ich wachend vor deiner Höhle.
Es ist schwer, den Weg zu verstehen, den wir gegangen sind; es ist viel schwerer, die Spuren zu verstehen, als ich es mir vorgestellt habe. Ich blicke mich wieder um, ja, du bist noch da, du folgst mir. Ich drehe mich zu oft um. Ich weiß. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir wieder an der selben Weggabelung sind, an der wir vor Monaten schon waren. Ja, Monate, meine geliebte Freundin, wir laufen seit Monaten hier durch diesen Wald. Aber wir sind immer doch du und ich, und wenn ich jetzt deine Augen sehe, haben sie zwar Angst, aber sie haben ein Ziel; es ist nicht das freie Feld oder die Wohnsiedlung, dir wir suchen, es ist ein Ziel, das nur du und dein Schatten kennen – aber ich gehe die Schritte für dich zurück, denn ich vertraue dir, dass wir beide an diesem Ziel ankommen werden. Die vergangene Zeit hat es mir zurück geschenkt, das Vertrauen, das ich verloren glaubte. Wir beide und dein Schatten, der immer noch da ist und ab und zu den Weg verdunkelt, den wir so mühsam versuchen, immer wieder aufs Neue zu finden, wenn wir ihn verloren glauben, sind eine kleine verlorene Wandertruppe, dein Schatten die Wanderroute. Ich vertraue dir, dass dein Schatten uns nicht zurück an diese Höhle führt, vor der ich lebend und du mit geschlossenen Augen fast gestorben wären.
Es ist anstrengend. Es ist verdammt anstrengend. Und nur zu oft merke ich, dass die Angst vor deinem Schatten, der immer noch da ist, das Vertrauen wieder und wieder erschwert. Er zerrüttet es in seinen Grundfesten. Und ich glaube, es geht dir auch so. Nein, ich weiß, es geht dir auch so.
Manchmal mein Gedanke: Es wäre leichter, mich noch einmal um neunzig Grad zu drehen, auf dich zu zurennen, mich auf dich zu stürzen, mich an dich zu klammern und zu sagen: Lauf rückwärts, verdammt, mit meinem Gewicht auf deinem, die neue Richtung, die wir so mühsam gefunden haben, hat kein Ziel! Lass uns uns zur Höhle schleppen, ich als das Gewicht, dass es schwer macht, aber nicht fähig, diesen Weg selbst zu gehen, aber ja, zumindest gäbe es ein Ziel, ein verdammtes Ziel.
Also, lauf einfach los, zur Höhle finden wir immer!
Und dann manchmal dein Gedanke: Es wäre leichter, mich noch einmal um neunzig Grad zu drehen und einfach wegzurennen, zu meiner Höhle und einfach mit geschlossenen Augen zu sterben. Aber vorher muss ich diese Last loswerden, die an mir hängt wie ein schwerer Sandsack, und mich zugleich rückwärts und vorwärts drängen will, ohne zu wissen, wo es hingeht.
Es vergehen Sekunden, Stunden, Tage, Monate, Jahre. Und wir stehen da und wissen nicht, wie weiter. So langsam haben wir Moos angesetzt, sind beinahe selbst zu deinem Wald geworden. Dein Schatten hat sich in die Sonne gelegt und wartet darauf, was du tust. Und dann stehst du da, immer noch, bewegst deine Füße unter der Last, die du trägst, mit deinem festen Schuhwerk auf dem Waldboden, der deiner ist, falsch herum in deiner eigenen Fußspur Richtung Höhle. Du hältst mich fest, hast mich umklammert, wo ich eigentlich dich umklammert haben wollte und sagst zu mir: Spring ab! Wenn ich gehe, dann nur ohne dich. Und ich sage: Aber ohne dich und deinen Schatten finde ich auch nicht aus deinem Wald. Ich wäre verloren ohne euch!
Und du sagst: Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als mir und meinem Schatten zu vertrauen, dass wir wissen, wohin.
Du schüttelst das Moos ab, das du angesetzt hast. Der Waldboden verdaut es. Du klopfst mich ab, die Fetzen von Braun und Grün fallen und fallen und landen auf deinem Boden, der weich ist, und doch aus Glas.
Und ich springe ab, schaue dich an, warte, was du tust. Unter uns setz das Glas Risse an, die Furche, die wir über die Jahre des Stehens im Waldboden hinterlassen haben, ist fest und tief. Du drehst dich nicht um, du stehst und spürst in dich hinein. Du spürst noch die Kraft, die es gekostet hat, mich so lange zu tragen, du hast das Bild vor Augen, wie ich an dir hing, geklammert, aus Angst, dich für immer an deine Höhle zu verlieren. Du wendest dich einmal um, schaust lange zurück, du erkennst noch die Umrisse der Höhle, die deine ist.
Dann schluckst du und sagst: Lauf los!
Und wir graben uns beide aus dieser Furche, die wir mit der Zeit hinterlassen haben, hinaus, es ist jeweils nur ein Schritt, das zweite Bein muss nur folgen. Wir stehen auf dem Waldboden, der deiner ist, und weich, und gehen weiter, ich voran, du hinterher und etwas weiter hinter dir dein Schatten. Er ist immer noch da, aber nach ein paar Monaten verliert er an Nähe. Wir laufen und wir laufen, wir werden nicht schneller, doch dein Schatten, er scheint müde zu werden. Und wir laufen und wir laufen. Du stolperst über einen Stein, wir lachen. Ich falle hin, du hilfst mir hoch, wir lachen. Dein Schatten gewinnt an Nähe, er ist wieder da, doch er läuft ruhig hinter dir.
Es regnet. Wir schauen uns ängstlich an – was tun? In Ordnung, wir ziehen die Schuhe aus, damit sie nicht nass werden und wir, mit unseren Füßen eingepfercht in die nasse Höhle aus Leder und Gummi, eine Erkältung bekommen. Der Waldboden ist feucht und glitschig, und wir fallen, und wir sind nass, aber wir stehen auf und laufen weiter. Ich weiß immer noch nicht, wohin du und dein Schatten uns führen. Wir sind eine kleine verlorene Wandertruppe, deine Augen sind die Wanderroute, dein Schatten unser ständiger Begleiter. Er gehört dazu, so scheint mir.
Wir laufen, wir ruhen, wir rappeln uns auf, wir laufen, wir ruhen, wir rappeln uns auf. Wir laufen, wir ruhen, wir laufen, wir ruhen, wir laufen, wir laufen. Was ich wahrgenommen, aber währenddessen nicht mitbekommen habe: Dein Schatten hat seit einiger Zeit keine Augen mehr. Wenn du lächelst, dann lächeln auch deine Augen wieder. Meine Liebe hat nun wieder den Spiegel, in den sie hineinfallen kann. Sie fällt und fällt und landet weich auf deinem Waldboden, wo sie vom Wasser verdaut wird. Ich beginne, deinen Wald zu mögen; er macht mir keine Angst mehr, weil du lächelst und deine Schuhe in deiner Hand trägst, und trotzdem nicht blutest. Ich versuche, deinen Wald zu verstehen und scheitere wieder; aber es ist nicht so schlimm, weil sich das Moos an meinen nackten Füßen weich anfühlt. Ich versuche nochmal, deinen Wald zu verstehen und scheitere wieder; aber es ist nicht schlimm, weil du hingefallen bist, blutest und weinst. Ich nehme ein großes Blatt, lege es auf dein Knie, helfe dir hoch, umarme dich, du legst deinen Arm und meine Schulter und humpelnd laufen wir weiter. Es ist schwer, dich zu stützen, der Waldboden unter mir gibt nach. Ich kann fast nicht mehr, aber ich merke, wie du dein Gewicht verlagerst, damit ich es schaffen kann, dich zu stützen und wir in humpelnder Eintracht richtig herum in unseren falsch herum zeigenden Fußspuren vorankommen. Du weinst immer noch, deine Tränen versickern im Moos und werden von der Erde verdaut. Du weinst, und ich bin glücklich, dass ich dich stützen darf, obwohl der Boden unter uns immer rutschiger wird.
Wir haben schon lange nicht mehr über das Ziel gesprochen, auf das wir zulaufen. Ich spreche es an, unsicher, ob es eigentlich wichtig ist oder jemals wichtig war. Du drehst dich um, suchst die Augen deines Schattens, die dir sagen sollen, wohin.
Ja, du hast sie immer noch manchmal gesehen, seine Augen, doch jetzt ist er nicht mehr da. Du rufst nach ihm, suchst ihn, ich spüre deine Panik, den Verlust. Du löst dich von mir, du schreist nach ihm. Dabei hörst du auf, zu weinen, brüllst nur noch durch den Wald. Vögel, die ich vorher nie wahrgenommen habe, fliegen auf. Ich versuche, dich zu packen, dich zu halten, doch deine Kraft ist überdimensional – du rennst, rennst in die falsche Richtung deiner richtigen Fußspuren, suchst und suchst deinen Schatten zwischen den Bäumen und Sträuchern. Er ist nicht mehr da. Du weinst, du weinst wieder, stürzt dich atemlos auf einen großen Baumstamm, der gefällt am Wegesrand liegt.
Ich komme zu dir. Vorsichtig. Ich nähere mich dir, frage leise:
Warum weinst du?
Du schluchzt, ringst nach Luft. Du antwortest nicht.
Ich setze mich zu dir.
Lege meine Hand auf dein Knie, wo ich immer noch die Wunde von deinem Sturz sehe, die längst verheilt sein müsste.
Ich lausche den Vögeln, die zwitschern.
Ich frage: Vermisst du ihn?
Du schweigst, dann schluckst du und sagst:
Er ist hier irgendwo, das weiß ich.
Ich sage:
Ich weiß.
Du schweigst wieder.
Ich lausche den Vögeln, die zwitschern und sehe die Sonne durch die Äste in deinen Wald scheinen.
Du sagst:
Lass uns gehen.
Ich schweige, lausche den Vögeln und frage:
Wohin?
Du lächelst sanft und sagst:
Einfach nur raus hier.
Wir gehen. Schweigend nebeneinander. Jede ihre eigenen Schritte, jede ihre eigenen Fußspuren der nackten Füße im Waldboden. Wir schauen nicht mehr auf den Boden, wir suchen nicht mehr die Richtung der Spuren zu verstehen, die wir vor Jahren hier hinterlassen haben. Wir reden nicht, als wir die Straße jenseits des Waldes entdecken und auf sie zugehen. Vor unseren Augen tanzen dunkle Punkte, als hätten wir sie geschlossen. Doch es ist nur das Licht, das von draußen in den Wald hineinscheint und beginnt, uns zu wärmen.
Wir gehen. Schweigend nebeneinander. Wir betreten die Straße, der Beton fühlt sich kalt an. Wir brauchen unsere Schuhe wieder, damit wir keine Erkältung bekommen. Du stützt dich auf mich, während du sie dir anziehst. Dann hältst du mir die Schulter hin, damit ich das selbe mit dir tun kann. Als ich mich herunterbeuge, sehe ich die Narbe an deinem Knie. Sie ist hässlich, aber sie gehört jetzt zu dir, und ich streichle sie.
Die Sonne scheint. Wir werfen jeweils einen Schatten auf den Boden, du einen und ich einen. Wir blicken diese lange an. Ich weiß nicht genau, wie lange. Ich wende den Blick von meinem Schatten ab, schaue nach oben und sehe dich. Dich und deinen Schatten, und mich und meinen Schatten auf der Straße in der Sonne stehen, während Wanderer in den Wald einbiegen, der nur ein Wald ist, und doch immer dein Wald bleiben wird.
Wir nehmen uns in den Arm, atmen ein und aus und spüren die Sonnenstrahlen auf unserer Haut. Ich nehme deinen Kopf in meine Hände: Du bist alt geworden, das sehe ich an den kleinen Fältchen rund um deine Augen. Und ich sehe noch etwas: Ich sehe mich und meine Fältchen um die Augen in dem Spiegel deiner Pupille, in die meine Liebe fällt und fällt. Und sie fällt und fällt und landet in deinen Füßen, um dir zu helfen, diese Straße nun entlang zu gehen. Sie einfach entlang zu gehen, bis wir auf etwas stoßen, wo wir endlich wissen, dass das das Ziel war.